Integration

Das Schlüsselwort „Integration“ wird erst seit zwanzig Jahren als politische Aufgabe für unsere kulturell vielfältige Gesellschaft verwendet. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Integration des Fremden“ in die Gesellschaft der Einheimischen war zu diesem Zeitpunkt reichlich spät, denn der Alltag hatte schon gezeigt wie notwendig diese ist. Der Begriff Integration wurde bis zu diesem Zeitpunkt meist in Verbindung mit Kindern, die blind waren, schwer hören konnten, in der Aufmerksamkeit anders ausgerichtet waren oder sich in Rollstühlen fortbewegten, also denjenigen, die einen anderen Zugang zur Welt hatten, verwendet. Viele Bundesländer und Staaten wie z.B. Italien haben schon sehr früh erkannt, dass ein gemeinsames Schüler*innenleben den „normgerechten“ Kindern guttut. Sie entwickeln eine höhere Aufmerksamkeit, sind rücksichtsvoller, entwickeln einen wertschätzenden Zugang zum eigenen Leben und zu der eigenen Gesundheit. Die Kinder einer „integrativen“ Klasse sind nicht mehr so „leistungsbezogen“, sondern „lebenspraktischer“ und „wertorientierter“.  Sie können zum Beispiel ein blindes Kind führen oder wissen wie man einen Rollstuhl schiebt. Sie beteiligen eine*n Rollstuhlfahrende*n in ein Fangspiel oder lachen über einen Witz, den ein Kind mit Downsyndrom immer wiederholt. Sie lernen Grenzen zu setzen, wenn es ihnen reicht. Eine exklusive Gesellschaft, die Menschen mit einem anderen Zugang zur Welt auslagert und in besondere Stätten verbannt, wird arm an Werten. Das unterschiedliche Lerntempo von Kindern wird dann plötzlich zum Hindernis und zu einem pathologischen Problem. Kinder, die natürliche Neugierde entwickeln für alles was nicht schulrelevant ist oder Bilder statt Buchstaben brauchen, werden schnell als „nicht-beschulbar“ abgestempelt und geraten in einen Abwertungskreisel. 

Der Begriff Integration wird nun auch auf Kinder aus der großen weiten Welt angewendet. In den Willkommensklassen soll dies nun geschehen. Glücklicherweise haben nicht alle Bundesländer ein so selektives System wie es in Bayern in vielen Bereichen stattfindet. In vielen Ländern sind die Schüler*innen in den „Regelklassen“ und gehen für den Sprachunterricht für eine bestimmte Zeit in einen anderen Raum. In Bayern sind es separate Klassen, die vor allem Deutsch lernen sollen. Im neuen Lehrplan ist Werteerziehung und kulturelle Bildung[1] vorgesehen.

Integration ist eine Bedingung, die jede offene, moderne Gesellschaft braucht, um auf lange Sicht weiter existieren zu können. Der Soziologe John Berry[2] hat mit dem Begriff gearbeitet und ist zu einer interessanten Definition gekommen.

Sein Interesse galt den Orientierungen, die eine Integration optimal machen. Er stellt die Ergebnisse seiner Untersuchungen in einer Matrix dar, die es erleichtert die Dynamiken rund um Integration zu verstehen. Seine Idee ist, dass Integration das Maximum an Anerkennung der Werte der Gesellschaft, in der wir leben und das Maximum an eigener kultureller Identität bedeuten kann. Er hat also zwei Vektoren, die einen Integrationsraum ausmachen. Gehen wir von der Vorstellung aus, dass die kulturelle Identität negiert würde und nur noch die Anerkennung der gesellschaftlichen Werte eine Rolle spielen würde, so wären wir bei der Adaptation. Eine Gesellschaft, die zum Beispiel ein geschichtliches Problem mit ihrer kulturellen Identität hat, erlebt diese durch die fremde Kultur als bedroht. Bewusst oder unbewusst wird von dem Fremden verlangt, seine eigene Identität aufzugeben. So entsteht Adaptation als Maßgabe und nicht die Nutzung des Potentials der Vielfalt.

Vermeidet eine Gesellschaft die gemeinsamen, verfassten Werte zu thematisieren und verlangt die Anerkennung dieser auch nicht von Fremden, so entsteht Separation und Segregation. Es entsteht ein Nebeneinander, in dem selbst das gültige Recht des Staates in Frage gestellt wird.  Auch hier scheint es ein Thema in unserem Land zu geben. Wo vermitteln wir offensichtlich unsere verfassten Werte? Glauben wir, dass die Würde des Menschen über einer Profitmaximierung steht? Müssen Politiker, die nachgewiesen nicht die Wahrheit sagten, mit Konsequenzen rechnen? Die Erfahrung, die Berry in seiner Arbeit machte, ist insofern spannend, als dass er behauptet, wenn beide Vektoren Richtung 0 gehen, die Marginalisierung eintritt. Werteverlust und das Aufgeben kultureller Identität sind somit Merkmale einer Marginalisierung. 

Integration aus dieser Sicht ist eine beständige Aufgabe einer Gesellschaft. Sie stellt viele Fragen an uns selbst und verlangt von uns eine Positionierung. Integration bedeutet demnach die Vermittlung der Werte unserer Gesellschaft in Übereinstimmung mit der kulturellen Identität des*der Einzelnen. Dabei muss beachtet werden, dass es hier um die wichtige Frage nach den Werten und der kulturellen Identität geht. Die Richtschnur unserer Werte ist die Verfassung. Hier sind die Werte festgehalten, die in öffentlichen Bildungssystemen vermittelt werden sollen. Dies hat zur Folge, dass wir uns fragen dürfen, ob dies auch so der Realität entspricht. Wo wird die Würde, die Gleichberechtigung und die individuelle Freiheit und Einzigartigkeit des Kindes, der Lehrkraft und der Eltern in den Mittelpunkt gerückt? Wie wird kulturelle Identität mit den Werten einer Gesellschaft konfrontiert? Kulturelle Ideen und Vorstellungen können nicht über dem Recht, der Verfassung des Landes, stehen, in dem wir leben. Aus diesem Grund gibt es auch Abgrenzung, wenn sich eine kulturelle Identität zu stark von den Werten dieser Gesellschaft unterscheidet. Es kann keine Toleranz für Ideologien geben, die menschenverachtend, rassistisch und gewalttätig sind.

Bezug zum Workshop

Dieses Spannungsfeld ist die Grundlage des Aushandlungsprozesses. Was sind die gemeinsamen Werte, die uns bei einem Zusammenleben in Deutschland verbinden? Wie gehen wir mit unserer kulturellen Eigenart um? Dies taucht in den Thesen auf, die dann per Audio, Video oder Theaterstück dargestellt werden. Wie sind sie damit umgegangen, dass sie ebenfalls verschieden sind? Wurden Konflikte sichtbar und thematisiert? Diese Fragen sollten auf jeden Fall in der Reflexion eingebracht werden. Es braucht in einer Klasse oder einer Gruppe und in der Gesellschaft den Konflikt, um überhaupt Integration voranzutreiben. Ohne Konflikt würde sich eine Gruppe unterordnen. Das wird auf lange Sicht nicht gut gehen, da die Probleme dieser Welt alle Menschen in Verantwortung braucht. Wenn die Abgehängten, Angepassten und Marginalisierten nicht bei der Veränderung, zum Beispiel bei der Klimakatastrophe, mitmachen, wird diese Welt sich massiv gegen ihre Bewohner*innen richten.

[1] https://www.km.bayern.de/allgemein/meldung/3756/bayern-engagiert-sich-fuer-die-bildung-von-jungen-fluechtlingen.html

[2] Applied Psychology: an International Review,  1997.46 p. 5-68